Hallo liebe Welt
In den letzten Jahren und Monaten waren wir im Hintergrund intensiv aktiv auf der Suche nach einem möglichen und geeigneten späteren eigenen Zuhause für Lea. Wer sich selbst auf solch eine Suche begibt, weiß um die oft ellenlangen Wartelisten, die überall auf den Schreibtischen liegen, weil es einfach allgemein zu wenig Wohnplätze für Menschen mit Behinderungen und/oder Pflegebedarf gibt. Und doch war diese Suche so wichtig für uns als gesamte Familie, weil wir gemeinsam und jeder auf seine ganz eigene Art uns immer wieder mit dem Thema „Auszug von Lea“ auseinandersetzen und anfreunden konnten. Manche meiner früheren Überzeugungen habe ich dadurch verändern und somit an Leas Weiterentwicklung anpassen können, aber auch lernen dürfen, dass in diesem Thema die physische, körperliche und geistige Verfassung von mir selbst als Pflegeperson ebenso wichtig ist. Vor längerer Zeit kam ich mal wieder aus solch einem vorbereitendem Gesprächstermin heraus. Während ich zum Auto ging, schickte ich meine Gedanken gen Himmel: „Bitte helft mir, in absehbarer Zeit einen geeigneten Platz für Lea zu finden, wo sie glücklich ist und wo sie mit Hilfe der nötigen und passenden Unterstützung weiter ihr Leben so gestalten und leben kann, wie sie es möchte. Gebt mir zu gegebener Zeit den Mut loszulassen und darauf zu vertrauen, dass Lea gut versorgt ist. Ich liebe mein Kind unendlich und würde im Leben alles wieder genau so machen, würde ich den Weg neu gehen. Doch ich bin auch müde, so unsagbar müde von all den Jahren der Pflege, der Aufopferung, wie sich pflegende Angehörige aus Liebe eben aufopfern. Jeder, der lange Zeit pflegt oder gepflegt hat, wird wissen was ich meine. Ich bin müde vom immer präsent sein müssen und neben meiner täglichen Arbeit, Pflege und Haushaltspflichten kaum Momente zu finden, für mich selbst Zeit mit meinen eigenen Bedürfnissen zu leben. Und wenn diese Zeit dann mal da ist, weiß ich oft nicht, was ich dann tun soll oder möchte, weil die Akkus einfach zu oft leer und überfordert sind. Und doch macht man weiter, aus Überzeugung, aus Liebe, aus Hingabe und würde es immer wieder tun. Ich möchte und brauche eine Veränderung, für Lea, für mich, für uns drei als Familie, weil ich mich auch nach mehr Alleine-Zeit mit meinem Partner sehne.“
Mit Tränen in den Augen blickte ich auf den Boden und da lag er, ein Glückscent - für mich eine direkte Antwort von oben. Ich nahm ihn mit einem Lächeln auf und legte ihn Zuhause in der Küche an einen Platz von dem ich wusste, dass ich jeden Tag darauf schauen würde. Wann immer mein Kopf voller Zweifel oder Ängste zum Thema Auszug war, schaute ich auf den Glückscent und wurde wieder ruhiger und vertraute…
Vor einigen Wochen ergab sich aufgrund unterschiedlicher Gegebenheiten plötzlich der Moment, in dem sich Leas Tür in ihre Zukunft inklusive eigenes Zuhause öffnete. Unsere Welt stand Kopf, auf beglückende, spannende aber auch in emotional herausfordernde Weise. Allein aufgrund der Tatsache, dass es ganz bald eine Veränderung geben sollte, fiel ein immenser Druck von meinen Schultern, den ich zuvor gar nicht in dieser Intensität wahrgenommen hatte. Leas erste Reaktion war pure Freude und Stolz auf all das, was nun folgen sollte. In den nächsten Tagen und Wochen gab es kaum Momente, in denen ich nicht irgendwelche Anträge ausfüllte, Kopien von wichtigen Unterlagen machte, Telefonate führte oder Termine mit den zuständigen Ämtern nachging, während der normale Alltag mit allen Pflichten ja einfach weiterlief. Das alles bedeutete auch, dass Lea kurzfristig zum Schuljahresende aus der Schule entlassen wurde und somit auch ganz bald in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung arbeiten und sich dabei beruflich finden darf. Als wir uns die zugehörige Werkstatt anschauen durften und alle vorbereiteten Gespräche dazu führten, wollte Lea direkt mit der Arbeit beginnen. In den vergangenen Ferienzeiten hatte sie mir ja schon sehr klar gezeigt, dass sie diese vielen Erholungszeiten nicht mehr braucht und viel lieber Serienarbeiten mit Tütenpacken, Holz und Co machen möchte. Auch wenn sie ihre Schulzeit durch und durch genossen hat und sich dort in all diesen Jahren mit der tollen Hilfe der gesamten Lehrerschaft und Therapeuten phantastisch entwickelt hat, war sie dem entwachsen und bereit für Neues.
In vielen Momenten kam ich selbst gar nicht dazu, wirklich darüber nachzudenken, dass mein Kind bald auszieht oder meine eigenen Emotionen darin wahrzunehmen, weil es einfach dafür ständig etwas zu erledigen gab. Lea durfte natürlich auch ordentlich shoppen gehen und sich die nötigen Möbel und passende Wandfarbe und Co aussuchen. Uns war es wichtig, dass sie selbst mit der nötigen Unterstützung entscheiden konnte, wie ihr Zuhause aussehen soll. Das stieß bei Lea natürlich auf riesengroße Freude und späteren Stolz. Neben Leas großer Freude hatte sie auch Momente, in denen ihr Kopf voller alter Ängste war, sie aufgrund der kommenden Veränderung weinte und noch mehr meine Nähe suchte. Instinktiv nutzte ich all meine psychologischen Erfahrungen und Ausbildungen und so konnten wir recht schnell gemeinsam alte Dämonen vertreiben und uns wieder vollen Vertrauen auf das besinnen, worum es ging. Lea durfte dabei lernen, dass es manchmal im Leben Veränderungen gibt, auf die man sich total freut, die sich aber dennoch auch zu Beginn komisch anfühlen. Ich durfte lernen, dass man manchmal denkt, man hat nun alle nötigen Anträge, Kopien, Gespräche und Co erledigt und schwups, flattert das nächste rein, damit vielleicht der Schreibtisch nicht so leer dasteht. Auch wenn ich viele Prüfungen und Anträge in ihrer Notwendigkeit nachvollziehen kann, ist es wirklich der Wahnsinn, was wir in unserem Land an Bürokratie zu bewältigen haben. Freudiger-weise hatten die Sommerferien ja schon begonnen, in deren erste Tage ich auch die letzten Reste abarbeiten konnte.
Hier zu Hause füllten sich langsam die Koffer und Taschen mit Leas Dingen, während mein Herzblatt sich darum kümmerte, dass die neue Farbe an die Wände kam und die Möbel aufgebaut wurden. Um uns allen und vor allem meiner Tochter keinen unnötigen inneren Druck zu machen, war das Thema Auszug zwar täglich präsent, aber verhielt sich in der Größenordnung eher normal und beiläufig, so wie man halt auch über das Wetter spricht oder was man sonst am Tage so gemacht hat. Dadurch blieben wir alle innerlich wesentlich entspannter. Wenige Tage vor dem Auszug unterschrieben Lea und ich gemeinsam den Mietvertrag. Als wir mit dem Auto zurück nach „Hause“ fuhren, realisierte ich plötzlich das erste Mal, dass meine Tochter wirklich ausziehen würde. Ich weinte vor Freude, Stolz und ich weiß nicht was alles. Was man als Mutter halt so alles fühlt, wenn dieser Moment gekommen ist… Der Umzugstag selbst klappte wunderbar. Leas Stimmung war gut, die zukünftigen Mietbewohner/innen freuten sich alle auf den Zuwachs und als wir die Tür zu Leas Zimmer öffneten, wurden wir dort mit einer süßen Willkommens-Überraschung begrüßt. Kurz um, ich spürte in meinem Mutterherz, alles war genau richtig, für Lea und für uns als Familie. Wir wurden an Leas eigenem Zuhause wie auch bei allen zuständigen Ämtern, Dienststellen und ebenso in der Werkstatt ganz wunderbar von den dort tätigen Menschen auf diesen Tag vorbereitet, mit wichtigen Informationen versorgt, haben offene Ohren gefunden für all unsere Fragen und viel offene Herzlichkeit und Sympathie genießen dürfen, wodurch sich alles einfach jetzt richtig und gut anfühlt. Wir sind im engen und ständigen Austausch mit allen, die nun tagtäglich Lea in ihrem Leben die nötige Hilfe und Unterstützung gewährleisten, die sie braucht, während alle aber auch darin immer Leas Recht auf ein selbstbestimmtes Leben im Blick behalten.
Ich bin zutiefst dankbar dafür, dass mein Kind im schönen Kreis Borken ihr eigenes Zuhause finden konnte und Leas Zukunftswünsche und meine innere Not erhört wurden. Sie darf sich nun an dem Ort im Leben weiter entfalten, wo sie schon längere Zeit vorher bei der allerersten Besichtigung direkt einziehen wollte. Es ist alles für uns einfach stimmig und richtig. In den nächsten Wochen und Monaten dürfen wir alle hier weiter in unser „neues Leben“ hineinwachsen. Leas Stimmung ist auch nach den ersten Wochen super und sie überrascht mal wieder mit ihrer lockeren emotionalen Reife, welche sie in solchen Momenten oft zeigt. Ich selbst erleben gerade, was es bedeutet, wenn man im Leben das machen kann, worauf man gerade Lust hat. Stellt Euch vor, ich war vor wenigen Tagen einfach spontan mit meinem Schatz im Kino und wir haben auch aufgrund meines Wunsches endlich mal wieder das Meer besucht. Ich kann die Ferien auch dafür benutzen, um spontan eine Radtour zu machen, mit meiner Fotokamera loszuziehen und meine Freunde zum Frühstück zu treffen. Während dessen genießt mein Kind ihre beginnende eigene Zukunft, bringt mich mit ihren oft total lustigen Sprachnachrichten via Handy zum Lachen und lässt mich glücklich und dankbar einschlafen, weil sie nun etwas lebt, worauf alle Menschen ein Recht haben, nämlich ein eigenes Leben auch außerhalb des mütterlichen bzw. elterlichen Zuhauses. An den Tagen, an denen die Stimmung bei meiner Tochter in der Phase kurz vor ihrem Auszug nicht gut war, plagten mich oft Schuldgefühle, weil mein Kopf mir glauben machen wollte, dass ich kein Recht dazu habe, das alles von ihr zu verlangen, nur damit es mir besser geht und ich mich nicht mehr überfordert und überarbeitet fühle. Es tat mir unendlich gut, dass ich in diesen Tagen Menschen um mich herum hatte, denen ich davon erzählen konnte, die mir zugehört haben. So konnte ich diesen Gedanken die Macht nehmen und sie enttarnen, denn sie sind nicht wahr. Neben all den Wünschen und Belangen, welche Menschen mit Behinderung und/oder Pflegebedarf haben, ist es ebenso wichtig, wie es den Menschen geht, die sich aufopfern und ihre Liebsten pflegen. Auch diese Menschen haben Grenzen, über die sie im Alltag ständig hinweggehen müssen oder andere tun dies. Es ist nicht egoistisch, wenn diese Menschen erkennen, dass sie in allem auch gut für sich selbst sorgen müssen und dürfen. Nicht alle Betroffenen haben im Leben aus ganz unterschiedlichen Gründen das nötige Auffangnetz innerhalb der Versorgung und Pflege. Manchmal ist es auch Zeit für eine Veränderung für alle, obwohl ein Auffangnetz da ist.
Das Ganze war ein Prozess, der in unserem Leben schon vor vielen Jahren begonnen hat. Mein Glückscent hat mir dabei geholfen, weiter für diese Veränderung im Leben voranzuschreiten, im Vertrauen zu bleiben und vor allem auf die Signale zu achten, die meine Tochter mir in all dem immer gesendet hat. Ihr massiver Arbeitsdrang in den Schulferien hat z.B. mit dazu geführt, dass ich schneller begriff, dass Schule toll war, sie aber nun bereit ist für die Arbeitswelt, obwohl ihr Alter ihr noch etwas Schulzeit gegeben hätte. Ihre Lockerheit und Offenheit gegenüber ihrem jetzigen eigenen Zuhause war ihre Art mir zu sagen, wo sie wohnen möchte, wo es für sie richtig ist, so wie sie mir damals auch gezeigt hat, auf welche Schule sie gehen möchte. Das genau an diesem Ort jetzt Platz für sie ist, ist für mich unser Geschenk des Himmels.
Meine Schuldgefühle haben sich aufgelöst und haben Platz geschaffen für eine tiefe Dankbarkeit, die vor wenigen Tagen verstärkt wurde, als wir das erste Mal nach dem Auszug gemeinsam einen Tag mit Grillen und Karten spielen verbracht haben. Als ich die glücklichen Augen meiner beiden Lieblingsmenschen sah und Lea auch danach in ihrem eigenen Zuhause wieder gut gelaunt zu Bett ging, lächelte ich innerlich. Wir sind bereit, gemeinsam und jeder für sich weiter zu erleben, was unser aller Leben nun für jeden mit sich bringt. Ich freue mich unendlich, dass die Werkstatt bald erleben darf, was es heißt, wenn Frau Lea Solo arbeiten will und werde selbst weiter lernen, wie es ist, wenn man auch ein eigenes Leben hat, während ich meinem Kind und allen nötigen Menschen und Orten weiter die Unterstützung gebe, welche gebraucht wird, um Leas Persönlichkeit, Bedürfnisse und Belange weiter kennen zu lernen. So darf ich in den nächsten Jahren Stück für Stück hier und da weiter zurücktreten und abgeben, während meine Tochter sicherlich schon im Geheimen Pläne schmiedet, womit sie uns als nächstes überraschen wird.
Kommentar schreiben
Mirella (Sonntag, 29 Oktober 2023 21:17)
Vielen, herzlichen Dank für diese wunderschöne Leseprobe. Du schreibst mir aus dem Herzen. Wir haben uns heute kurz kennengelernt und es tut einfach wahnsinnig gut zu sehen, dass du eine Glückliche Frau bist, obwohl du diesen Pflegemarathon schon hinter dir hast, wo ich grad mittendrin bin. Das macht mir Mut, danke dafür. Herzliche Grüße, Mirella