2.Teil / besondere Leseprobe von "Weil Du weißt wie glücklich geht"

.....Die ersten Tage der neuen Woche hatte ich aufgrund des Lockdowns täglich für mich einige berufliche und für Dich viele pflegerische und medizinische Dinge zu erledigen, bis in unserem neuen Alltag endlich etwas mehr Ruhe einkehren konnte, die ich nach den Anspannungen der letzten Tage dringend brauchte. Doch die Ruhe wehrte nicht lange, denn der Briefkasten hatte nach und nach einige Überraschungen für mich auf Lager. So wurde, wie ich schon erwartet hatte, Dein Wochenende mit der Lebenshilfe abgesagt, kurze Zeit später wurde auch die Ferienfreizeit aus den Sommerferien in das kommende Jahr verschoben und beruflich wurde ich aufgrund der Schulschließungen in die Kurzarbeit geschickt, was verständlich und logisch war, wenn man als Unternehmen in solch einer Phase überleben möchte. Das bedeutete für mich aber im Leben finanzielle Einbußen, die ich mir eigentlich nicht leisten konnte, was in mir schlagartig Existenzängste auslöste. Deine bevorstehenden Termine bei den Therapeuten, welche herausfinden wollten, ob Du auch autistisch bist, wurden ebenfalls alle abgesagt und auf später verschoben, da unter den gegebenen Umständen dort keine Termine stattfinden konnten. Der Antrag für Deine Grundsicherung ab Deiner Volljährigkeit stand ja auch noch aus und sollte in den nächsten Wochen von mir gestellt werden. Ausserdem warteten noch weitere unzählige rechtliche Anträge und Erledigungen auf mich, welche ich aufgrund Deines baldigen 18.Geburtstages stellen und erledigen musste, was mich innerlich massiv unter Druck setzte. Und dann gab es da ja noch die unklaren Knoten in meiner Schilddrüse, die ja noch intensiver untersucht werden sollten.

.....Irgendwann in diesen Tagen brach ich in Tränen aus. Ich war zwar froh, dass ich nun beruflich den nötigen Freiraum hatte, um Deine Gesundheit in der Pandemie zu schützen und Dich zu versorgen, aber die Geschehnisse bedeuteten auch, dass ich nicht wusste, wann ich eine Pflegepause bekomme. Die letzten 17 Jahre Deiner Pflege, welche ich weites gehend allein übernommen hatte, all die vielen Zeiten in Krankenhäusern und bei Ärzten, die vielen Dinge auf die ich ständig und immer wieder verzichtete, weil unser Leben eben aufgrund Deiner Erkrankungen und Deiner Behinderung schon immer anders war, all die Überforderungen und so vieles mehr lag plötzlich mit einer unglaublichen Schwere auf meinen Schultern. Die kommenden Wochen bedeuteten für uns, dass wir fast nur zu Hause sein würden, vielleicht mal zusammen zur Ablenkung mit dem Auto eine Runde durch die Gegend fahren könnten und sich auch Spaziergänge draußen in Grenzen halten werden, da Du einfach gesundheitlich mit Deinem Herzen nicht belastbar genug für längere Strecken bist. Das hieß, dass ich auf unbestimmte Zeit eine 24/7-Betreuung ohne Pausen übernahm, weil Du einfach nicht allein gelassen werden kannst, weil Dir ja nun mal jegliches Gefühl für Gefahren fehlt. Auch gemeinsames Einkaufen im Supermarkt wäre ein großes gesundheitliches Risiko für Dich, da man dort eben vielen Menschen begegnet und damit das eigene Ansteckungsrisiko steigt. Das löste ein Druckgefühl in meinen Lungen aus und ließ mich gefühlt zusätzlich zu all den finanziellen Unsicherheiten kaum richtig Luft bekommen…..

 

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.....Nach wenigen Tagen war mein innerer Kampfgeist erneut geweckt und ich beschloss, dass ich genug Tränen vergossen hatte. Jetzt war es Zeit, die Ärmel hochzukrempeln und das Beste aus der Situation zu machen…..

 

Zu Hause schaute ich auf Deinen Stundenplan von der Schule und hatte die Idee, die Tage daheim in den nächsten Wochen danach zu gestalten. Für Deine Mathematikstunden kramte ich den LÜK-Kasten aus Deinem Schrank, den wir schon lange nicht mehr benutzt hatten. Für den Deutschunterricht konnten wir ein Spiel benutzen, mit dem man spielerisch lernt, erste Wörter zu schreiben und Dir auch eine tolle Möglichkeit einer Selbstkontrolle mit Hilfe von farbigen Symbolen unter den einzelnen Buchstaben bot. Zusätzlich konnten wir damit das ABC trainieren. Um die gelegten Wörter intensiver zu lernen, durftest Du diese im Anschluss in ein Heft schreiben und warst hinterher jedes Mal total stolz und glücklich, weil Du so viele Wörter geschrieben hattest. Glücklicherweise hatte ich Dich vor einigen Wochen mal am späten Mittag während einer kranken-gymnastischen Einheit in der Schule besucht. So wusste ich, was Du dort lernst und wie Du trainierst. Mit Hilfe einer Leiter, vielen Sofakissen, Haarklammern, Möbelstücken und kleinen spielerischen Einheiten habe ich Dir zu Hause einen Parkour aufgebaut, auf dem Du Dich einmal pro Woche austoben konntest.

 

.....Wir hatten kaum damit begonnen, daheim Deinen Schulalltag nachzuspielen, als zu unserer Freude auch schon ein Brief von der Schule mit passenden Übungsmaterial für Dich ankam. Nach dem schweren emotionalen Start in diese Woche machte es mir nun einen riesigen Spaß, quasi Deine Schulbegleitung zu sein. All die Erfahrungen aus dieser Arbeit und auch unsere früheren Erlebnisse bei verschiedensten Therapeuten halfen mir dabei zu verstehen, auf welche Art Du am besten lernen kannst und was Du brauchst, um Dich gut konzentrieren zu können. Ich hatte bei unserem gemeinsamen Lernen glücklicherweise nur selten Momente, in denen ich mich überfordert fühlte, weil ich manchmal erst herausfinden musste, wie Du am besten die Lernaufgaben verstehen und bearbeiten konntest. Da Du ja all die Jahre Deine Fähigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen auf die Zeit in der Schule beschränktes, konnte ich in diesen Wochen endlich intensiv miterleben, was Du in diesen Bereichen wirklich kannst. Plötzlich wurden diese Wochen des Lockdowns für mich als Schulbegleitung eine Art Intensiv-Schulung, während ich als Mutter fasziniert davon war, was Du mir in unserem Home-Schooling alles an Wissen zeigtest. In einigen Dinge hatte ich Dich zuvor unterschätzt und war glücklich darüber, dass ich nun die Möglichkeit hatte, mein Bild von Dir darin gerade zu rücken. In anderen Bereichen wurde meine Einschätzung Deiner Fähigkeiten und Deiner Grenzen beim Verstehen von Zusammenhängen bestätigt. All diese Aufgaben erweiterte ich mit Dingen des alltäglichen Lebens, die ebenso wichtig zu erlernen sind.....

 

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.....Irgendwann in dieser Zeit musste Andreas an einem Tag länger als gewöhnlich arbeiten, bevor wir gemeinsam ins freie Wochenende starten konnten. Im Laufe des Tages telefonierte ich mit ihm und er sagte, dass sich seine Ankunft wohl leider bis in den frühen Abend verschiebt. Irgendwann am späten Nachmittag rief er mich erneut an und sagte: <<Bitte zieht Euch beide Schuhe und eine dünne Jacke an und kommt in etwa 10 Minuten nach draußen an die Haustür. Bitte wartet dort an der Tür auf mich.>> Natürlich wollte ich wissen, was das Ganze sollte und wusste nicht, ob ich mich aufgeregt freuen oder ängstlich sein sollte. Doch auf meine verwunderten Nachfragen antwortete er nur: <<Bitte macht das einfach. Keine Angst, es passiert nichts Schlimmes. Bitte wartet einfach an der Haustür auf mich, bis ich da bin. Vertrau mir.>> Also haben wir beide kurze Zeit später unsere Schuhe und eine Jacke angezogen und uns draußen an die Haustür gesetzt, um auf Andreas zu warten. Wenige Minuten später kam sein Auto langsam vorbeigefahren und er winkte uns fröhlich aus dem offenen Fenster zu. Er hatte einen Anhänger am Auto, den ich nicht kannte. Ich habe ein paar Sekunden gebraucht, bis ich verstanden habe, was er auf dem Anhänger geladen hatte. Darauf war ein Therapie-Tandemfahrrad befestigt, ähnlich wie das, was wir vor einiger Zeit in Holland getestet hatten, jedoch mit etwas größeren Rädern. Während ich sofort in Freudentränen ausbrach, hörte ich Dich rufen: <<Yeah, ein Fahrrad. Mama, jetzt zusammen Fahrrad fahren!>> Wir liefen auf die Straße und auch unsere Nachbarn kamen grinsend nach draußen, die natürlich von dieser Aktion gewusst hatten. Ich schaute Andreas an und fragte: <<Wo hast Du das her? Wo warst Du?>> Mit einem verschmitzten Lächeln sagte er: <<Ich war heute nicht arbeiten. Ich habe mir von einem Bekannten den Anhänger ausgeliehen und bin losgefahren, um das Fahrrad abzuholen, dass ich vor einiger Zeit im Internet entdeckt habe. Es hat zwar keinen Elektromotor, aber es ist total gepflegt. Ich habe dem Besitzer, der total nett war, von Euch beiden erzählt und ihm das Fahrrad für einen echt guten Preis abgekauft. Meine kleine Freundin hat gesagt, dass sie gern mit uns Fahrrad fahren möchte und Du möchtest das auch schon lange. Jetzt können wir endlich zusammen kleine Fahrradtouren machen.>> Ich konnte vor Freude gar nicht aufhören zu weinen. Du wolltest sofort eine Probefahrt machen und konntest vor Aufregung gar nicht mehr stillstehen. Nachdem das Rad abgeladen war, durftest Du direkt eine Sitzprobe machen. Die Entfernung zu Deinem Lenker passte perfekt zu Deiner Armlänge, jedoch kamen Deine Füße nicht an die Pedalen, da Deine Beine ja nun mal sehr kurz sind. Doch die Männer besprachen sich bereits miteinander, was sie in den nächsten Tagen an dem Rad umbauen müssen, damit alles für Dich passt. Da Du noch immer unbedingt sofort losfahren wolltest, mussten wir Dich an dem Tag noch ausbremsen und Dir erklären, warum wir Deine erste Fahrradtour erst in ein paar Tagen machen können. So parkten wir Dein neues Rad erst einmal in der Garage und gingen wieder zurück in unsere Wohnung.

 

.....Während Andreas den Anhänger wegfuhr, liefen mir noch immer die Tränen. In diesem Moment spürte ich, wie sehr ich manchmal in unserem Leben eigentlich ganz einfache und banale Dinge vermisse. Mit dieser Überraschung hatte Andreas uns überhaupt erst die Möglichkeit für gemeinsame Radtouren geschaffen. Wie simpel und normal sind doch viele Dinge eigentlich im Leben und doch bleibt manches einigen Menschen verwehrt. Wenn Krankheiten oder Behinderungen das eigene Leben anders machen, muss man sich unglaublich viel erkämpfen. Manchmal sind auch neue andere Wege nötig, um Ziele zu erreichen, doch manchmal bleiben einem auch einige Türen für immer verschlossen. Es ist vollkommen ok, dass viele Menschen sich nicht immer bewusst darüber sind, wie reich ihr Leben eigentlich ist und wie viele Möglichkeiten ihnen diese Welt eigentlich bietet. Vielleicht ist es menschlich, dass dieses Bewusstsein erst intensiv entsteht, wenn einem vieles verwehrt bleibt. Die anhaltende Pandemie war seit Monaten auch eine Chance für die Gesellschaft, neben all den Sorgen und Ängsten auch den Reichtum in unserer Welt zu erkennen. In Deinem Leben gibt es in meinen Augen viele Türen, die Dir aufgrund Deiner Erkrankungen und Behinderung verschlossen bleiben. Doch Du hast mir dafür im Tausch stets Türen mit ihren Welten dahinter gezeigt, die ich ohne Dich nie gesehen hätte. Neben all meinen Sorgen und Ängsten im Leben durfte ich schon immer auch von Dir abschauen und lernen, wie glücklich geht. Darin verblasst so vieles, was sich zuvor noch schwer anfühlte. Andreas hatte es uns möglich gemacht, eine kleine Tür der Normalität zu öffnen und meine Dankbarkeit und Wertschätzung dafür kann nicht mit passenden Worten ausgedrückt werden. Mit all diesen Gedanken versiegten meine Tränen irgendwann in einem wunderbaren Glücksgefühl. Nachdem einige Tage später die nötigen Umbauten an Deinem Rad abgeschlossen waren, konntest Du endlich Deine erste Fahrt damit machen, während mein Mutterherz es durch und durch genoss, Dich so stolz und glücklich dabei zu sehen.....

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