1.Teil / besondere Leseprobe von "Weil Liebe keine Fehler kennt"

 .....Wir zwei hatten das Glück, dass uns die Phasen mit Übelkeit, Stimmungsschwankungen und all das erspart blieb. Der Arzt fragte mich, welche Kontrolluntersuchungen ich mir zum normalen Umfang wünsche und ich sagte: „Sagen Sie mir, was wirklich NÖTIG ist. Ich bin schwanger und nicht krank. Ich bringe keinerlei Risiken mit und werde mir kurz vor meinem 30.Geburtstag selbst das wunderschönste Geschenk machen, welches es auf Erden geben kann. Welche Untersuchungen sind neben dem Standard wirklich nötig?“

Er antwortete: “Rein medizinisch betrachtet in Ihrem Falle keine. Sie haben die Möglichkeit, Ihr Kind auf ein evtl. Down-Syndrom untersuchen zu lassen. Bei jeder 100.Schwangerschaft kann es zu solch einer Behinderungen kommen.“ Ich antwortete: „Aus welchem Grund sollte mein Kind krank sein?“, lächelte und streichelte über meinen Bauch. So buchten wir lediglich bei jedem Arztbesuch Deinen Fototermin, da ich gar nicht genug Ultraschallbilder von Dir bekommen konnte…..

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.....Schließlich kam mein letzter Arbeitstag, bevor wir beide gemeinsam in den Mutterschutz starteten. Da Du bei der letzten Untersuchung beim Arzt sehr klein warst und er sicher gehen wollte, dass es Dir wirklich gut geht, fuhren wir am ersten Tag unserer arbeitsfreien Zeit zu einer Doppleruntersuchung ins Krankenhaus. Dies ist eine farbige Ultraschalluntersuchung des Bauches. Deine Oma begleitete mich und war total aufgeregt, durfte sie Dich doch gleich quasi im Fernsehen das erste Mal live und in Farbe erleben. Wir schauten staunend und mit Tränen der Freude in den Augen auf den Bildschirm, lange Zeit, sehr lange Zeit, zu lange, wie mir mein Gespür sehr schnell sagte.

In meinen Kopf überschlugen sich die Bilder und eine tiefe nie zuvor gespürte Angst machte sich breit. Da ich beruflich jahrelang bereits als Arzthelferin beim Kardiologen arbeitete, konnte ich es erkennen. Dein Herz, Dein kleines Herz, es arbeitete nicht so, wie es sein sollte. Die Herzwand fehlte zum Teil, sauerstoffarmes Blut war dort, wo es nicht sein sollte und in mir machte sich ein emotionales Chaos breit, welches ich in Farbe auf dem Bildschirm sah. Ich registrierte den besorgten und ernsten Blick des Arztes und Deine Oma strahlte noch immer darüber, dass sie Dich sehen konnte. Nach einer gefühlten Ewigkeit brachte ich die Frage über meine Lippen: „Herr Doktor, was ist hier los?“ Er sprach ruhig und mit besorgter Miene: „Das Herz Ihres Kindes ist krank, stark deformiert und es arbeitet nicht so, wie es sein sollte...“

Die Welt schien still zu stehen und obwohl ich auf der Untersuchungsliege lag, schien ich einfach ins Bodenlose zu fallen, und es gab kein Ende in diesem Sturz. So viele Fragen und Ängste waren in meinem Kopf: „Wie sollst Du leben, wenn Dein Herz, Dein Lebensmotor so defekt ist? Warum geschieht das? Was hatte ich übersehen oder vergessen? Hätte ich es verhindern können? Wie kann ich Dir helfen? Bitte Gott, lass nicht zu, dass mein Kind nicht leben kann. Sie ist so klein, unschuldig, rein in ihrem Wesen...“, und immer wieder die Frage nach dem WARUM.

Der Arzt sagte, dass er versuchen wolle, den Kinderkardiologen hinzu zu holen, um eine fachkundige Einschätzung der Situation geben zu können…….Der Kardiologe war leider an diesem Tag nicht mehr erreichbar und so erklärte der untersuchende Arzt mir nach einer weiteren Ultraschalluntersuchung, dass Du ein großes Loch im Herzen hast. Die Hauptwege von Deinem Herzen wären verengt und der Bluttransport so nicht gewährleistet. Ich hörte all seine Erklärungen und doch hörte ich nichts, außer, die Angst um Dich in mir. Ich hörte ihn sprechen: „Kinder, welche ein Loch im Herzen haben, haben in 65% der Fälle auch ein Down-Syndrom.“ Ich schaute ihn an und verstand nicht und fragte: “Bitte?“ „Das ist ein Chromosomenschaden, Trisomie 21, früher sagte man auch Mongolismus“, antwortete er und ich spürte auch seine Betroffenheit. „Sie haben nur noch vier Wochen Zeit bis zu Ihrem Geburtstermin. Wenn wir das eher gewusst und gesehen hätten, hätten Sie noch etwas tun können. Sie hätten sich entscheiden können.“...........

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.....In der kommenden Nacht habe ich noch ewig wach gelegen, während Du ganz ruhig warst. Während in meinem Kopf weiter das Chaos herrschte, streichelte ich über meinen Bauch und somit Dich: „Gott, wenn Du da bist, wenn Du mich hören kannst, warum passiert das? Warum tust Du das? Habe ich mich nicht schon genug in meinem Leben beweisen müssen? Ist dies die Strafe dafür, dass ich mit Anfang 20 einmal zu einer Freundin sagte, dass ich ein behindertes Kind nicht austragen würde? Was habe ich nur falsch gemacht? Ich habe schon vor Jahren das Rauchen aufgegeben, trinke so gut wie nie Alkohol, achte so sehr auf Lea und mich. Warum kommst Du meinem innigsten Wunsch nach einem eigenen Kind nach, um es mir womöglich direkt wieder zu nehmen?“ Ich war damals noch nicht im Ansatz in der emotionalen Verfassung, um Dich voll und ganz als Geschenk zu begreifen und doch liebte ich Dich von der ersten Sekunde an mehr, als alles andere bisher auf der Welt.

Ich weinte lautlos die halbe Nacht und irgendwann kam ER mir in den Sinn. Wie viele Jahre war es her, 10 oder gar 12? Ich war damals auf einer Sprachreise in England, damit ich endlich in der Schule bessere Noten ablieferte. Die Familie verstand kein Wort Deutsch, wie ich aus Briefwechseln zuvor erfahren hatte. Dann stand er vor mir, mit seiner Mutter an der Hand und holte mich vom Bus ab. Als ich ihn sah, war ich sofort verliebt. Ich kann es heute nicht mehr anders beschreiben, aber ohne auch nur eine einzige Sekunde darüber nachzudenken, SAH ich ihn einfach. Lester war damals ca. acht Jahre alt und ein absolut charmanter Junge mit Down-Syndrom. Jeder seiner Blicke und Worte gingen direkt in mein Herz. Morgens hatte ich innerhalb der kommenden drei Wochen Englischkurs, und wenn wir nicht gerade Pflichtprogramm vom Reiseveranstalter hatten, verbrachte ich jede freie Sekunde meiner Zeit mit Lester und seiner Familie. Wie habe ich sein Lachen und seine Faszination für Zauberei geliebt. Er war so geduldig mit mir, wenn ich manchmal sein englisch nicht verstand und lachte sich kaputt, wenn ich etwas falsch aussprach. Ich habe diese drei Wochen mit ihm und seiner Familie so sehr genossen und ganz nebenbei bemerkt, dass ich auch auf Englisch eine Quaktasche sein kann, grins. Nach drei Wochen sollte es wieder nach Hause gehen. Er fuhr mich mit seiner Mutter zum Bus. Beim Abschied gab er mir ein Geschenk und sagte, dass er traurig sei, dass ich wieder Heim müsse und das er mich tierisch vermissen werde. Er umarmte mich und beide weinten wir. Er schenkte mir einen kleinen Teddy, der für den einen oder anderen vielleicht gar nicht so toll gewesen wäre, doch für mich war dieser Teddy alles. Es war, als würde ich einen Teil von Lester von nun an immer bei mir haben. Diese tiefe Liebe, diese Ehrlichkeit, diese Einfachheit, diese unbändige Lebensfreude, alles war darin. Ich weiß heute noch, dass ich auf der gesamten Heimfahrt mit dem Bus und der Fähre geweint habe.

 

Und in dieser Nacht weinte ich wieder. Wie konnte ich nur denken, dass ich bestraft werde? Die Erinnerungen und die Zeit mit Lester waren genau das Gegenteil, es war pures Glück. Ich stand auf und kramte in dem Schrank, in dem ich alle alten Stofftiere aus meiner Kindheit aufbewahrte und da war er. So viel Spielzeug hatte ich an ein Kinderheim verschenkt, wo ich selbst einige Monate gelebt hatte, doch niemals diesen Teddy. Ich nahm ihn in den Arm und sagte: „Ich danke Dir Lester. Damals hatte ich eine Ahnung, doch heute WEIß ich. Ich liebe Dich und ich werde alles tun, was nötig ist, damit meine Lea ein Leben bekommt, wie es für sie gut und richtig ist. Ich habe schreckliche Angst, aber das ist o.k. Ich darf Angst haben. Ich darf hineinwachsen, Stück für Stück. Lieber gebe ich mein eigenes Leben, als aufzugeben. Das habe ich noch nie getan, egal, was war. Ich habe so unglaublich viele Dinge erlebt, überstanden und selbst erschaffen. Das war nicht umsonst. Ich habe gelernt zu kämpfen und durch Dich Lea, spüre ich eine Liebe, wie ich sie noch nie erlebt habe. Bitte sei geduldig mit mir, wenn ich zwischendurch Phasen habe, wo ich mich schwach oder überfordert fühle, schuldig und hilflos. Auch wenn ich es heute noch nicht verstehen kann, das WARUM, eines Tages werde ich es. Deine Behinderung, Dein Down-Syndrom ist eine Kleinigkeit. Das wuppen wir mit links. Aber zuerst kümmern wir uns um Dein Herz.“……

 

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